Achtsamkeit verändert das Gehirn

warten? Diese Zeitverschwendung hat Ulrich Ott aus seinem Leben verbannt: „Anstatt mich über unpünktliche Menschen zu ärgern, sage ich mir: Wie schön, dass mir diese Personen Momente der Besinnung ermöglichen, die in meinem Zeitplan gar nicht vorgesehen waren.“ Reframing nennt Ulrich Ott so etwas, die Dinge aus einer ungewohnten Perspektive betrachten. So ein innerer Positionswechsel mache aus dem grauen Alltag eine Erkundungstour und stimme heiter. Bei ihm selbst scheint das Reframing zu funktionieren. Der Diplom-Psychologe wirkt gelassen, sein Blick ist verschmitzt. „Wenn die Verabredung dann eintrifft, bin ich entspannt und freue mich auf sie.“

Am Bender Institute of Neuroimaging (Bion) der Universität Gießen erforscht Ott, was während der Meditation im Gehirn passiert. Warum hilft Versenkung bei Angst, Stress oder Schmerzen? Welche Gehirnregionen werden bei mystischen Erfahrungen aktiviert?

Kann man solche Bewusstseinsveränderungen überhaupt wissenschaftlich untersuchen? Ja, behauptet Ott: Mystik sei angewandte Neurowissenschaft, ihre Theorien seien bislang nur nicht sauber aufgeschrieben worden. Die Vorgehensweisen von Yogis, Derwischen oder Einsiedlermönchen seien mit jenen westlicher Wissenschaftler durchaus verwandt. Für beide gelte das Prinzip: „Hypothese, Methode, Ergebnisse“, denn Mystik basiere nicht auf Glauben, sondern auf Erfahrung.

Effektives Gehirntraining

Unabhängig von der Mystik geht es in der Meditation primär darum, sich auf die unmittelbare Gegenwart zu konzentrieren – und das hat verblüffende Wirkungen: Wer regelmäßig seine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt bündele, so Ott, verändere langfristig „die Architektur seines Gehirns“. Denn jede Tätigkeit setzt bestimmte Bereiche im Gehirn in Gang, und je öfter eine Tätigkeit wiederholt wird, desto stärker wachsen entsprechende Hirnstrukturen. Das menschliche Gehirn ist ein Trainingsorgan, die Aufmerksamkeit sein Werkzeug.

Auch US-Wissenschaftler widmen sich der inneren Versenkung. Sara Lazar, Harvard-Psychologin und US-Pionierin der Meditationsforschung, untersuchte 20 regelmäßig meditierende Probanden und stellte fest, dass ihre Hirnrinde bis zu fünf Prozent dicker ist als die nicht meditierender Vergleichspersonen. Zudem wiesen ihre Hirnareale für Aufmerksamkeit und Sinneswahrnehmungen deutlich mehr neuronale Verschaltungen auf. Am auffälligsten waren diesen Veränderungen bei älteren Meditierenden, woraus Ott schließt, dass „regelmäßiges Meditieren eine Ausdünnung der Hirnrinde im Alter“ verhindert.

Seine eigenen Meditationsübungen absolviert Ott am liebsten im Auto. Er wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern am Waldrand eines Vororts von Wiesbaden und pendelt täglich eine Stunde zu seinem Universitätsbüro in Gießen. Diesen Arbeitsweg auf der Autobahn nutzt er für spirituelle Trainingseinheiten; „achtsames Autofahren“ nennt er das.

Es beginnt schon mit der Haltung. Sobald er merkt, dass er sich verkrampft, durchwandert er in Gedanken seine Schulterverspannungen und lässt sie los, indem er tief ausatmet. Das verbessere nicht nur die Fahrqualität, er spare so auch Treibstoff, meint Ott: Bei achtsamer, gelassener Fahrweise verbrauche sein Diesel fünf Liter Sprit auf 100 Kilometer. „Wenn ich verbissen rase, komme ich auf 6,5 Liter.“

Abends, wenn er nach Hause fährt, stellt er sich manchmal vor, dass er sein Heimatdorf zum ersten Mal besucht. „Mit diesem Anfängergeist schaue ich mich um, als wäre ich in einer fremden Stadt“, sagt er. Diese Übung mache innerlich frei und wach, trainiere Aufmerksamkeit und Konzentration und sei zudem sehr unterhaltsam.

Psychologe Ulrich Ott ist der führende Meditationsforscher in Deutschland. An der Uni Gießen untersucht er, wieso Meditation die seelische Gesundheit fördert. Sein Credo: Wer achtsam ist, stärkt nicht nur sein Immunsystem, sondern hat mehr Spaß am Leben – und kann sogar Sprit sparen. Von Holger Fuß

In Deutschland vermisst Ott eine gewisse, wie er es nennt, spirituelle Dimension im Alltag. Bei anderen Völkern, in denen die Religion eine größere Rolle spielt, sei dies viel selbstverständlicher. Er selbst hat so eine Dimension Anfang der 1990er Jahre kennen gelernt, während seiner Yogalehrer-Ausbildung. Zwei Jahre lang trainierte der damalige Psychologiestudent Ott in Frankfurt am Main im Mahindra-Yoga-Zentrum. Als Mystiker sieht er sich zwar nicht, dennoch habe ihn sein indischer Yogameister sehr geprägt: „Er war der erste, der mich mit einem anderen Seinszustand konfrontiert hat.“ Manchmal klingt Ott esoterisch, doch er forscht nach wissenschaftlichen Kriterien.

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